Bild: Stephan Röhl. Lizenz: Creative Commons BY-SA 2.0. Original: Flickr.
In einer unserer ersten Projektbeschreibungen aus dem Sommer 2009 lese ich diesen Satz: “Das expeditionen-Projekt will das Publikum mit der Aktualität von Tschernobyl konfrontieren“.
Zugegeben, in diesen Tagen klingt eine derartige Absichtserklärung einigermaßen befremdlich. Auf sämtlichen Nachrichtenkanälen werden wir mit der Aktualität von Fukushima konfrontiert, und dahinter läuft als Subtext die Erinnerung an Tschernobyl mit, was bei den Älteren für ein bitteres déjà vu sorgt. Schon wieder die Geschichten von heroischen Liquidatoren („unglücklich das Land, das Helden nötig hat“), schon wieder die Wolke, die ein günstiger Wind aufs Meer, ein ungünstiger auf die Metropole bläst, schon wieder das konfuse Stochern im Nebel, weil sich offenbar niemand auf die „quantité négligeable“ namens Restrisiko vorbereitet hat, und schon wieder wird verschwiegen, verheimlicht, beschönigt, diesmal nicht auf Russisch sondern Japanisch. (Wir haben seinerzeit die Desinformationspolitik im Falle Tschernobyl ausschließlich dem Sowjetsystem angelastet – da haben wir uns wohl geirrt.)
Aber diese Art von flüchtiger Aktualität hat der Satz aus der Projektbeschreibung von 2009 gar nicht gemeint. Er bezog sich vielmehr auf die zeitliche Dimension der Katastrophe. Der GAU von Tschernobyl ist auch nach 25 Jahren nicht beendet, er ist immer noch aktuell. Innerhalb und außerhalb der Sperrzone fahren wir auch heute noch durch verstrahltes Land. Weit und breit keine Spur von Wiederaufbau. Die schöne Redensart „Zeit heilt Wunden“ gilt hier nicht. Und wenn auch in der Ukraine über alles Gras wächst, dann ist es verstrahltes Gras.
Für die Aktualität von Tschernobyl steht als ein realsymbolischer Ort „die Zone“. Real, weil dort tatsächlich die Verstrahlung messbar ist, symbolisch, weil die Zone ein beklemmendes Bild abgibt für alle verseuchten Orte auch außerhalb der Absperrung, und weil sie an die unzähligen Menschen erinnert, die ihre Versehrtheit an die folgenden Generationen weitergeben, bis ins dritte und vierte Glied, um den Sachverhalt in Luthersprache zu benennen.
Von dieser realsymbolischen Zone handelt die Ausstellung.
Sie gliedert sich in drei Abteilungen:
Was ist? Was war? Was könnte sein?
1. Was ist? (prypjat: die zone)
Für den ersten Teil der Ausstellung wollten wir kein Fotoalbum und auch kein dramatisches Video-Potpourri zusammenstellen. Im Lauf der verflossenen 25 Jahre haben sich ja unzählige dokumentarische Tschernobyl-Bilder angesammelt, starre und bewegte, und alle sind sie eigentlich zuhause im Fernsehen. Damit wollen wir nicht konkurrieren. Wir folgen vielmehr zwei außergewöhnlichen Foto-Künstlern, die zu verschiedenen Zeiten und mit jeweils eigenem Blick die Zone anschauen und das Angeschaute zeigen.
Die Fotografen sind beide Auswärtige, der Kanadier Robert Polidori, der Prypjat-Klassiker, kommt aus New York und Paris, der Russe Andrij Krementschouk aus Leipzig und Berlin. Der jüngere, Krementschouk, war 13 Jahre alt, als Block 4 explodierte. Er gehört zu einer Generation, für die Tschernobyl nicht mehr das epochale einschneidende Ereignis war, sondern eine Gegebenheit, vorgefundene Normalität.
Als Prolog zu den beiden Fotoserien eine Tafel mit Versen von Lina Kostenko. Die ukrainische Dichterin musste nicht von weit her nach Tschernobyl anreisen, sie ist im Oblast Kiew zuhause. 1993 fanden wir in der Zeitschrift „Literarische Ukraine“ eine Sammlung von Vierzeilern mit dem Titel „Kurz wie die Diagnose“ und darin das unerhörte Bild von der Menschheit als einer im Bernstein eingeschlossenen Fliege.
Alles verseucht
Jetzt gilt die Quarantaine
Für euch Felder
Für dich, harzige Kiefernkrone
Kann sein, hier härtet sich schon der Bernstein
Aber die Menschheit weiß es nicht.
Eine einzige Tafel wird natürlich Lina Kostenko und ihrer Bedeutung für Tschernobyl nicht gerecht, aber es handelt sich hier quasi um einen Vorgriff auf das Kommende, denn im Dezember 2011 eröffnet das Augustinermuseum in Freiburg in Zusammenarbeit mit dem Ethnografischen Museum in Lwiw eine Ausstellung „Tschernobyl. Expeditionen in ein verlorenes Land“, in der die Arbeit von Lina Kostenko gewürdigt wird.
Und schließlich ein Element, das nun gar nicht zu den anderen Exponaten passen will: Das Videospiel „Shadow of Chernobyl“ aus der S.T.A.L.K.E.R.- Serie. Prypjat und die Zone als Kulisse für ein Ego-Shooter-Spiel. Der junge Mann, der mich in dieses Spiel eingewiesen hat, fragte, als ich sagte, ich sei dort vor kurzem gewesen, „Wie bitte – dieses Prypjat, das gibt es wirklich?“
Für die Berliner Version der Ausstellung haben wir das Vidospiel ausgelagert, es wird morgen Abend in dem Film „Tschernobyl Forever“ ausführlich präsentiert.
2. Was war? (prypjat – atomograd)
Die zweite Abteilung der Ausstellung folgt der Frage: Wie ist es denn in dieser unbekannten Gegend zugegangen, bevor wir in aller Welt den Namen Tschernobyl als Synonym für die bis dahin folgenreichste Reaktorkatastrophe kennengelernt haben? Die Frage beantworten wir arbeitsteilig. Die spätere, schon erwähnte ethnographische Ausstellung in Freiburg und eine Ausstellung im Wendland beschäftigen sich mit der uralten geschichtsträchtigen Polissja-Kultur der Tschernobyl-Region, aber hier konzentrieren wir uns auf die geschichtslose Stadt Prypjat, die 1970 gleichzeitig mit dem Atomkraftwerk aus dem Boden gestampft wurde.
Dabei stoßen wir auf das Phänomen der sogenannten „Atomstädte“, und wir landen bei den Gründungsmythen und den erstaunlichen Illusionen des frühen Atomzeitalters.
An dieser Stelle eine notwendige Anmerkung: Wir sind keineswegs daran interessiert, nachträglich über diese Illusionen zu triumphieren. Die Gefühle sind andere. Denn die Diskrepanz zwischen den damaligen Hoffnungen, wie sie etwa in dem Film „Atomograd“ ausgesprochen werden, und der historischen Realität von Prypjat nach 1986 ist derart herzzerreißend, dass kein Triumph aufkommen kann.
Wir zeigen dokumentarisches Filmmaterial, Texte und Plakate, und wir verfolgen einige Spuren, die vielleicht Aufschluss geben über die Frage: Wo kam das eigentlich alles her? Dieser bedingungslose Glaube an Wissenschaft, Technik, Fortschritt, der Machbarkeitswahn, der Glaube an das grenzenlose Wachstum?
Über die enthusiastische Industrialisierung zur Zeit des ersten Fünfjahresplans sagt eine Romanfigur in Ilja Ehrenburgs Buch „Der zweite Tag“ von 1932: „Sie sagen ‘Enthusiasmus‘. Früher nannte man es Glauben. Er wurde neugeboren in jenem Jahr, als man die Ikonen verbrannte und die Reliquienschreine aufbrach.“
Majakowski hat für diese Konfession der Moderne eine Art Choral geschrieben, das Poem „WIR“ von 1929, wir haben es hier ausgestellt im russischen Original und in deutscher Übersetzung. Und wenn Sie sich den Film „Atomograd“ anschauen, werden Sie feststellen, dass noch 50 Jahre später die Komsomolzen von Prypjat in diesem Glauben erzogen wurden. Die Straße der Enthusiasten führt direkt in das AKW Tschernobyl.
Manche werden fragen: warum beschäftigt Ihr Euch eigentlich nur mit der sowjetischen Variante des Atomzeitalters? Die Antwort ist einfach: Unser Thema ist das sowjetische AKW Tschernobyl und nicht das deutsche Biblis oder das französische Fessenheim. Das Publikum wird zweifellos die Übereinstimmungen zwischen den östlichen und den westlichen Illusionen selbst erkennen – und auch die Unterschiede.
3. Was könnte sein? (charkiv – block4)
Die dritte Abteilung der Ausstellung beschäftigt sich mit der unvermeidlichen Frage: Was folgt aus Tschernobyl? Und sie präsentiert keine westliche Antwort, sondern eine östliche, genauer gesagt: aus dem Osten der Ukraine, aus der Hochschule für Grafik und Design in Charkiv. Dort nämlich existiert seit 1991 eine Internationale Triennale für ökologische Plakate, benannt nach dem explodierten Reaktorblock von Tschernobyl: BLOCK4.
Der Initiator der Triennale, Oleg Veklenko, Grafiker und Hochschullehrer, war 1986 als Reservist zu den Liquidatoren von Tschernobyl eingezogen worden. Fünf Jahre später dann die erste Ausstellung in Charkiv und auch eine neue Konzeption für Plakatkunst im öffentlichen Raum.
Die Eco-Poster sollten als demokratische Kunst im Gegensatz zur Propaganda der Stalin- und der Brezhnjew-Ära dem Publikum nicht Losungen einhämmern, sondern sie sollten zu denken geben. Anstiftung zur Kritik und zur Innovation. Die Plakatkunst steht nicht mehr im Dienste von staatlich gelenkten Kampagnen, sondern sie steht der Zivilgesellschaft zur Verfügung. Eco-Poster als plakative Meinungsäußerungen von Individuen und Gruppen. So lautet seit zwanzig Jahren die Antwort aus der Kunsthochschule in Charkiw auf die Katastrophe von Tschernobyl.
Mossmann, Walter
(*1941), Publizist. Aufgewachsen in Freiburg im Breisgau. Studium Germanistik, Soziologie, Politische Wissenschaft in Freiburg, Tübingen, Hamburg. Autor für diverse Medien: Rundfunk und TV, Printmedien, Dokumentarfilm, Theater. Von 1965 bis 1995 auch als Liedermacher in Erscheinung getreten. 1974 Mitbegründer der Badisch-Elsässischen Bürgerinitiativen gegen die Atomkraftwerke am Oberrhein und für erneuerbare Energien. Seit 1992 Arbeit für den Kulturaustausch Deutschland/Ukraine. 1993 der Film «Lemberg. Geöffnete Stadt» mit Didi Danquart (ARTE). 2009 erschien das autobiografisches Buch über die 60er und 70er Jahre: «realistisch sein: das unmögliche verlangen. Wahrheitsgetreu gefälschte Erinnerungen». Lebt in Freiburg.Walter Mossmann ist einer der Mitinitiatoren des Projekts „Tschernobyl25-Expeditionen“ und neben Eva Morat Kurator der Ausstellung „Die Straße der Enthusiasten“.
Dossier
Tschernobyl 25 – expeditionen
Am 26. April 1986 explodierte der Atomreaktor in Tschernobyl. Nicht nur Teile der Ukraine, Weißrusslands und Russlands wurden verstrahlt. Die radioaktive Wolke überzog halb Europa. Die Katastrophe war aber nicht nur eine ökologische. Die Entwicklung der Kultur einer ganzen Region wurde unwiderruflich gestoppt. Die Ausstellung „Straße der Enthusiasten“, Lesungen, Diskussionen und ein internationales Symposium erinnern an den GAU und fragen, ob eine weltweite Renaissance der Atomkraft tatsächlich Realität wird.